Der Grad der kognitiven Beeinträchtigung älterer Menschen, die am häufigsten neurokognitiven Störungen entwickeln, kann extrem heterogen sein. So wurde beobachtet, dass sehr langlebige Menschen frei von kognitiven und funktionellen Beeinträchtigungen leben, obwohl sie im Gehirn pathologische Befunde, also Hirnschädigungen, aufwiesen. Weiterhin ist die Beweislage dafür gewachsen, dass das Gehirn lebenslang auf Erfahrungen reagiert. Dies hat das wissenschaftliche Interesse insbesondere für das Verständnis von Schutzstrategien für die Kognition geweckt.

Frühere Studien haben gezeigt, dass Analphabetismus und ein niedrigeres Bildungsniveau mit einer höheren Häufigkeit (Prävalenz) der Alzheimer-Krankheit in dieser Gruppe verbunden waren. Andere Studien haben nachgewiesen, dass kognitiv stimulierende Aktivitäten während des ganzen Lebens einen schützenden Effekt in Bezug auf Demenz haben, und dass dieser Effekt auf neuronale Mechanismen zurückzuführen ist, die nicht direkt mit pathologischen Veränderungen zusammenhängen. Das legt den Schluss nahe, dass Menschen mit höherem Bildungs- und Berufsniveau weniger anfällig für die Entwicklung einer Demenz sind, selbst wenn ihre Gehirne krankhafte Merkmale der Alzheimer-Krankheit aufweisen (z.B. b- Amyloid-Plaques und Tau-Proteine).

Es wurde postuliert, dass solche Personen eine Art von „Reserve“ haben, d.h. sie haben sowohl mehr Verbindungen und Neuronen die beschädigt werden müssen, als auch Wissen, das gelöscht werden muss, bevor sie Symptome einer Demenz entwickeln. Der Begriff „kognitive Reserve“ (CR) wurde eingeführt, da er bildlich erklärt, warum einige Menschen mehr altersbedingte und/oder pathologische Veränderungen des Gehirns tolerieren können als andere und dennoch ihre kognitiven Funktion erhalten können. 

Das Konzept der CR legt nahe, dass unser Gehirn aktiv versucht, mit seinen eigenen Schäden fertig zu werden, indem es bereits vorhandene kognitive Prozesse nutzt oder kompensatorische Prozesse rekrutiert. Die CR sollte unterschieden werden von der sogenannten „Hirnreserve“, die sich speziell auf individuelle Unterschiede in den strukturellen Eigenschaften des Gehirns bezieht (z.B. Hirnvolumen, Zahl der Windungen), die eine Resilienz gegenüber neurodegenerativen Erkrankungen ermöglichen. Die Hirnreserve ist also sozusagen von der “Hardware” abhängig, während „die kognitive Reserve“ die Software ist, die auf ihr läuft. Der Begriff, der beide umfasst, ist die sogenannte “globale Reserve”.

Die-Kognitive-Reserve-als-Schutzfaktor

Die kognitive Reserve bezieht sich also auf den Grad der Fähigkeit eines Individuums, Angriffe auf das Hirn zu tolerieren und sich so vor dem Auftreten von Symptomen zu schützen, die aus neuropathologischen Schäden entstehen.

Letztendlich würden demzufolge Personen mit einer größeren kognitiven Reserve bei einer fortschreitenden neurodegenerativen Erkrankung später das Demenzsyndrom entwickeln. Diese Verzögerung erlaubt ein längeres defizit-freies Überleben und beschränkt eine mögliche funktionelle Einschränkung auf einen kürzeren Zeitraum.

Faktoren, die zur Entwicklung der kognitiven Reserve beitragen sind:

– höhere Ebene der schulischen Bildung

– komplexe berufliche Tätigkeiten

– die sogenannte kristallisierte Intelligenz (QI) 

Damit bezeichnet man die Summe aller Fähigkeiten, die im Laufe des Lebens erlernt bzw. durch die Umwelt bestimmt werden.

– soziales Engagement

– körperliche Aktivität

– Beteiligung an kognitiv stimulierenden Aktivitäten jeder Art

Wie schützt nun die kognitive Reserve vor Alzheimer und anderen Demenzkrankheiten?

Mit einem Wort: durch Neuroplastizität. In der medizinischen Literatur finden wir viele Berichte von Menschen, die auch nach weitgehender Zerstörung von Hirngewebe durch Verletzungen wie Trauma oder Schlaganfall in der Lage blieben, komplexe intellektuelle Funktionen zu erfüllen. Es gibt den Fall einer Nonne, die nach einem Schlaganfall bis zu ihrem Tod weiterhin komplexe Kreuzworträtsel löste. Es gibt andere Fälle, in denen Lehrerinnen und Lehrer nach einem Schlaganfall an ihren Arbeitsplatz zurückkehren, obwohl Hirngewebe, das mit kognitiven Aufgaben verbunden war, zerstört wurde. Ihre Gehirne leiteten diese Aufgaben auf andere Regionen um.

Kognitiv stimulierende Aktivitäten (KSA)

Da die Neuroplastizität auch in höherem Alter existiert, erscheint es sinnvoll, die kognitive Leistungsfähigkeit durch gezielte stimulierende Aktivitäten zu erhöhen und damit die CR zu verbessern.

Per Definition kann eine Aktivität als kognitiv stimulierend angesehen werden, wenn sie die Verarbeitung von Informationen als zentrale Ressource beinhaltet und dabei wenig von körperlicher Anstrengung und sozialen Bedingungen beeinflusst wird. Einige Beispiele sind: Diskussionsgruppen, Computernutzung (für einen bestimmten und produktiven Zweck), Teilnahme an Karten- und Brettspielen, Rätsellösung (einschließlich Kreuzworträtsel und Sudoku), Üben von Musikinstrumenten und Erlernen einer zweiten Sprache.

Einer Reihe von Beobachtungsstudien zufolge korreliert die Teilnahme an kognitiv stimulierenden Aktivitäten (auch wenn sie später im Leben begonnen wird) mit einem verringerten Demenzrisiko. Darüber hinaus haben auch einige Studien gezeigt, dass im Umkehrschluss eine stärkere Beteiligung an weniger kognitiv stimulierenden Aktivitäten, insbesondere am Fernsehen, mit einem höheren Demenzrisiko verbunden ist.

Dies führte zu der „Use it or lose it“-Hypothese – wenn ein Individuum einer weniger stimulierenden Aktivität ausgesetzt ist, baut sich der kognitive Schutzfaktor der CR nach und nach ab.

Eines ist dabei wichtig. Die kognitiv stimulierenden Tätigkeiten müssen freiwillig, aus eigenem Antrieb und passionierten Interesse ausgeübt werden, ob in der Freizeit oder im Beruf. Sobald eine Tätigkeit extrem belastend ist, wird der positive kognitive Effekt nicht eintreten oder sich sogar in eine negative Auswirkung auf die psychische Gesundheit und die Kognition verwandeln.

Fazit:

Die kognitive Reserve ist ein modifizierbarer Risikofaktor in Bezug auf die Prävention der Alzheimer-Krankheit. Kognitive Stimulation in der Jugend kann diese neuronale Funktionsreserve und damit die Toleranz gegenüber krankheits- oder altersbedingten Schäden erhöhen. In ähnlicher Weise kann die Ausübung kognitiv stimulierender Aktivitäten bis ins hohe Alter die kognitive Reserve erhöhen. Neben Ernährung und körperlicher Aktivität ist die kontinuierliche Stimulation Ihrer Neuronen genauso wichtig, um Ihre Hirngesundheit zu verbessern und Demenz vorzubeugen!

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Referenzen:

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