Anticholinergika sind Medikamente, die routinemäßig für viele verschiedene Krankheitsbilder verschrieben werden, darunter Allergien, Depressionen, Harninkontinenz und die Parkinson-Krankheit. Sie blockieren die Wirkung von Acetylcholin, einem Neurotransmitter, der an Lernvorgängen und an der Festigung des Gedächtnisses beteiligt ist.

Jüngste Studien haben gezeigt, dass diese Medikamentenklasse mit der Entwicklung eines kognitiven Rückgangs in Verbindung gebracht werden kann und das Risiko einer Demenzerkrankung erhöhen kann.

In einer Studie[1], die im letzten Jahr veröffentlicht wurde, hatten Patienten, die Anticholinergika einnahmen, ein höheres Risiko, innerhalb von 10 Jahren eine leichte kognitive Beeinträchtigung zu entwickeln. Leichte kognitive Beeinträchtigung, oder auch abgekürzt aus dem Englischen „mild cognitive decline“ MCI, ist ein Frühstadium der Alzheimer-Krankheit. Die Autoren fanden außerdem heraus, dass das Risiko bei Patienten, die zusätzlich das APOE4-Gen tragen und diese Art von Medikamenten einnahmen, noch höher war. Das APOE4-Gen ist ein genetischer Risikofaktor für die Alzheimer-Krankheit (weitere Informationen finden Sie im Abschnitt Genetik).

Kurz notiert

Acetylcholin ist ein Neurotransmitter, d. h. ein chemischer Botenstoff, die von Nervenzellen freigesetzt wird, um Signale an andere Zellen wie Neuronen, Muskelzellen und Drüsenzellen weiterzugeben. Er ist an verschiedenen Stellen des Nervensystems zu finden und erfüllt die folgenden wichtigen Funktionen:

  • In den neuromuskulären Verbindungen (Schaltstellen zwischen Neuronen und Muskelzellen) aktiviert Acetylcholin die Muskelkontraktion sowohl der quergestreiften als auch der glatten Muskeln.
  • Im autonomen/vegetativen Nervensystem ist Acetylcholin der wichtigste Neurotransmitter des parasympathischen Nervensystems (dem ‚Erholungsteil‘ des autonomen Nervensystems)
  • Im Gehirn fungiert Acetylcholin als Neurotransmitter und Neuromodulator mit einer wichtigen Rolle bei der Steigerung der Wachsamkeit, der Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit, des Lernens und des Gedächtnisses.

Obwohl Anticholinergika in der Regel für schwere Erkrankungen wie Depressionen, Parkinson und psychiatrische Störungen verschrieben werden, können einige von ihnen rezeptfrei in der Apotheke gekauft werden, darunter viele Medikamente, die häufig für andere Indikationen verwendet werden (Tabelle 1).

Eine weitere wichtige Tatsache, die es bei der Einnahme dieser Medikamente zu beachten gilt, ist die so genannte „anticholinerge Belastung“, d. h. die kumulative Wirkung der Einnahme mehrerer Medikamente mit anticholinergen Eigenschaften. Einige Medikamente, die in anderen Indikationen verwendet werden (Tabelle 1), sind nicht als anticholinerge Arzneimittel eingestuft, weil dies nicht ihre Hauptwirkung ist. Diese haben aber dennoch eine mehr oder weniger starke anticholinerge Wirkung. Da jedes Medikament etwas anders wirkt, kann es daher mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit zu einem kognitiven Abbau führen. Die anticholinerge Aktivität eines Arzneimittels wird zur besseren Einschätzung daher in eine quantitative Werteskala eingeteilt, die von „keiner anticholinergen Aktivität“ (entspricht dem Wert 0) bis zu einer „hohen anticholinergen Aktivität“ (entspricht dem Wert 3) reicht (s. auch Tabelle 2).

Es hat sich dabei gezeigt, dass die gleichzeitige Einnahme vieler Arzneimittel mit geringer anticholinerger Aktivität zu einer kumulativen anticholinergen Wirkung und folglich zu einer hohen anticholinergen Belastung führen kann[2].

Medikamente wie Antibiotika, Kortikosteroide, Antisäuremittel und Diuretika können eine geringe anticholinerge Wirkung haben. Leider werden älteren Menschen üblicherweise viele Medikamente gleichzeitig verordnet, was man auch als Polypharmazie bezeichnet. Diese Patienten sind dann deutlich anfälliger für anticholinerge Belastungen und deren negative Nebenwirkungen, einschließlich eines erhöhten Demenzrisikos[3].

In Tabelle 2 finden Sie eine Liste mit den an den häufigsten verwendeten Medikamenten und deren Klassifizierung nach anticholinerger Wirkung. Sie kann zur Berechnung der individuellen anticholinergen Belastung herangezogen werden.

Schlussfolgerung:

 Anticholinergika können das Risiko der Entwicklung einer leichten kognitiven Beeinträchtigung erhöhen, insbesondere bei Patienten, die das APOE4-Gen tragen. Einige Medikamente, die nicht als Anticholinergika eingestuft sind, können eine geringe bis hohe anticholinerge Aktivität aufweisen. Die gleichzeitige Einnahme vieler Medikamente mit unterschiedlichen anticholinergen Wirkungen kann die „anticholinerge Belastung“ erhöhen und das Demenzrisiko steigern. Diese Tatsachen unterstreichen die nachteiligen Auswirkungen anticholinerger Medikamente auf die Kognition, insbesondere bei Personen mit erhöhtem Alzheimer-Risiko. Ärzte sollten daher sorgfältig abwägen, ob der Nutzen der Einnahme anticholinerger Medikamente das Risiko einer kognitiven Beeinträchtigung überwiegt, und sich der kumulativen negativen Wirkung mehrerer Medikamente mit anticholinerger Wirkung bewusst sein. Auch sollte jeder Patient, der sich diese Medikamente aufgrund anderer Indikationen rezeptfrei aus der Apotheke besorgt, über diese nachteiligen Wirkungen durch den Apotheker aufgeklärt werden, und für sich eine sorgfältige Kosten-Nutzen-Abwägung vornehmen, um sich nicht unnötig einem höheren Demenz-Risiko auszusetzen. Gerade Menschen, die auch anderen Demenz-Risikofaktoren ausgesetzt sind, sollten sich unbedingt diese Mühe machen.

Präparat Medikamentenklasse Anwendung
Aceprometazin Neuroleptikum, Antihistaminikum Psychiatrie
Acepromazin Neuroleptikum, Antihistaminikum Psychiatrie
Alimenazin Antihistaminikum, Beruhigungsmittel Allergiebehandlung, Psychiatrie
Alprazolam (Benzodiazepin) Anxiolytikum (Angstlöser) Psychiatrie
Alverin Antispasmolytikum (Krampflöser) Schmerz- und Entzündungsbehandlung
Amitriptylin (Tricyclisches) Antidepressivum Psychiatrie
Amoxapin (Tricyclisches) Antidepressivum Psychiatrie
Belladonna Alkaloide Antispasmolytikum (Krampflöser) Schmerz- und Entzündungsbehandlung
Chlorphenamin Antihistaminikum Schmerz- und Entzündungsbehandlung
Clomipramin (Tricyclisches) Antidepressivum Psychiatrie
Clorazepat (Benzodiazepin) Anxiolytikum (Angstlöser) Psychiatrie
Codein Analgetikum Schmerz- und Entzündungsbehandlung
Colchicin Antihyperurikämikum (Antigichtmittel), Antiphlogistikum (Entzündungshemmer) Rheumatologie
Dexchlorpeheniramin Antihistaminikum Allergiebehandlung
Digoxin Antiarrhythmikum, Kardiotonikum Kardiologie
Furosemid Diuretikum, Blutdrucksenker Kardiologie
Hydroxyzin Anxiolytikum (Angstlöser), Antihistaminikum Psychiatrie
Imipramin (Tricyclisches) Antidepressivum Psychiatrie
Levomepromazin Neuroleptikum Psychiatrie
Maprotilin (Tetracyclisches) Antidepressivum Psychiatrie
Opipramol (Tricyclisches) Antidepressivum Psychiatrie
Orphenadrin Antiparkinsonmittel Neurologie
Oxybutynin Antispasmolytikum (Krampflöser) Urologie
Theophylin Bronchodilator, Antiasthmatikum (Asthmamedikament) Pneumologie
Trihexyphenidyl Antiparkinsonmittel Neurologie
Trimiparamin (Tricyclisches) Antidepressivum Psychiatrie
Tropatepin Antiparkinsonmittel Neurologie

Tabelle 1: Häufig verwendete Anticholinergika, modifiziert nach Ancelin et al.[4]

Geringer anticholinerger Effekt

(Skala-Wert 1)

Mittlerer Anticholinerger Effekt

(Skala-Wert 2)

Hoher Anticholinerger Effekt

(Skala-Wert 3)

Alprazolam Metoprolol Amantadin Amitriptylin
Ampicillin Mirtazapin Carbamazepin Atropin
Atenolol Morphin Cimetidin Chlorpheniramin
Azathioprin Nifedipin Haloperidol Klemastin
Baclofen Oxazepam Loperamid Clomipramin
Atenolol Paliperidon Loxapin Clozapin
Bisacodyl Phenobarbital Maprotilin Cyproheptadin
Bromocriptin Pramipexol Methadon Darifenacin
Bupropion Prednison Olanzapin Dimenhydrinat
Captopril Promethazin Opipramol Diphenhydramin
Celecoxib Pseudoephedrin Oxcarbazepin Doxepin
Cetirizin Quinidin Paroxetin Fesoterodin
Chlordiazepoxid Risperidon Pethidin Flavoxat
Clindamycin Rotigotin-Pflaster Pimozid Hydroxyzin
Clonazepam Selegilin Quetiapin Imipramin
Kodein Sertralin Ranitidin Levomepromazin
Desloratadin Sumatriptan Theophyllin Nortriptylin
Dexamethason Temazepam Tramadol Orphenadrin
Digoxin Tiotropium Oxybutynin
Diltiazem Trandolapril Procyclidin
Dipyridamol Trazodon Propiverin
Domperidon Triamcinolon Scopolamin
Escitalopram Triamteren Solifenacin
Famotidin Triazolam Thioridazin
Fluoxetin Valproinsäure Tizanidin
Furosemid Vancomycin Tolterodin
Gentamicin Venlafaxin Trihexyphenidyl
Hydralazin Warfarin Trimipramin
Hydrokortison Ziprasidon Trospium
Ipratropium Zolmitriptan
Levodopa
Metformin
Methotrexat
Metoclopramid

Tabelle 2: Überblick über die anticholinerge Wirkung einiger gewöhnlich verschriebener Arzneimittel, modifiziert nach Kiesel et al.[5]

Referenzen
  1. Weigand AJ, Bondi MW, Thomas KR, Campbell NL, Galasko DR, Salmon DP, Sewell D, Brewer JB, Feldman HH, Delano-Wood L; Alzheimer’s Disease Neuroimaging Initiative. Association of anticholinergic medications and AD biomarkers with incidence of MCI among cognitively normal older adults. 2020 Oct 20;95(16):e2295-e2304.
  2. Salahudeen MS, Duffull SB, Nishtala PS. Anticholinergic burden quantified by anticholinergic risk scales and adverse outcomes in older people: a systematic review.BMC Geriatr. 2015;15:31.
  3. Gray SL, Anderson ML, Dublin S, et al. Cumulative use of strong anticholinergics and incident dementia: a prospective cohort study.JAMA Intern Med. 2015;175(3):401-407.
  4. Ancelin ML, Artero S, Portet F, Dupuy AM, Touchon J, Ritchie K. Non-degenerative mild cognitive impairment in elderly people and use of anticholinergic drugs: longitudinal cohort study. BMJ. 2006;332(7539):455-459.
  5. Kiesel EK, Hopf YM, Drey M. An anticholinergic burden score for German prescribers: score development.BMC Geriatr. 2018;18(1):239. Published 2018 Oct 11. doi:10.1186/s12877-018-0929-6