Die Lage spitzt sich zu: Während die Alzheimerzahlen deutschland- wie auch weltweit dramatisch zunehmen, scheint ein pharmakologischer Durchbruch noch weit entfernt zu sein. Es tauchen zwar immer wieder neue Medikamenten-Kandidaten auf, die es bis in die letzte Phase der klinischen Zulassung schaffen, aber aufgrund unzureichender Wirksamkeit scheitern – und bislang ist es keinem einzigen gelungen, den geistigen Verfall aufzuhalten.

Umso mehr lässt die Nachricht aufhorchen, die aktuell in der Presse heiß läuft: Das neues Anti-Demenz-Mittel Lecanemab soll bei Patienten den geistigen Verfall um 27 Prozent verlangsamen, eine schnelle Marktzulassung wird derzeit von den Herstellern Biogen und Eisai angestrebt.

Aber was steckt tatsächlich dahinter und wie sieht es aktuell wirklich auf dem Alzheimer-Medikamenten-Markt aus?

Immuntherapeutika, insbesondere Antikörper gegen die Alzheimer-spezifischen Amyloid-ß (Aß)-Ablagerungen, erkennbar an der Endung “-mab”, sind derzeit auf dem Vormarsch. Jedoch sind bereits vor einigen Jahren die Wirkstoffe mit den Namen Solanezumab (Eli Lilly) und Bapineuzumab (Janssen und Pfizer) wegen fehlender klinischer Wirksignale gescheitert. Im Jahr 2022 haben auch Crenezumab und Gantenerumab, zwei Kandidaten des Schweizer Pharmakonzerns Roche, gegenüber der fatalen Gehirnerkrankung keine Wirkung gezeigt und auch sie haben somit im klinischen Zulassungsprozess versagt. Auch der bislang vielversprechendste Arzneimittelwirkstoff Aducanumab (Biogen/Eisai), der es im Jahr 2021 zur Zulassung schaffte, allerdings in einem äußerst umstrittenen Zulassungsverfahren und nur in den USA, ist hinsichtlich seiner Wirksamkeit fraglich. In Europa wurde seine Zulassung von der europäischen Zulassungsbehörde für Arzneimittel EMA wegen „einer nicht nachgewiesenen Wirksamkeit und möglichen schwerwiegenden Nebenwirkungen des Medikamentes“ abgelehnt.

Der Antikörper  Lecanumab scheint nun der neue Hoffnungsträger zu sein: die Ergebnisse der klinischen Zulassungstudie mit dem Namen Clarity-AD sind noch nicht in der Wissenschaftspresse publiziert, sollen aber Ende 2022 beim Clinical Trials on Alzheimers Congress vorgestellt werden.

Die klinische Studie mit Lecanemab

In der Doppelbildstudie wurde der Antikörperwirkstoff im Vergleich zu Placebo an 1795 Probanden im frühen Stadium der Alzheimer-Demenz mit nachgewiesenen Amyloid-Plaques untersucht. Die Verabreichung erfolgte alle 2 Wochen intravenös. Primärer Endpunkt war die Verbesserung in einem standardisierten Fragebogen, dem sogenannten Clinical Dementia Rating CDR-SB, gegenüber Studienbeginn. Der CDR-SB ist eine 5-stufige Bewertungsskala, mit der sechs Bereiche der kognitiven und funktionellen Leistung charakterisiert werden können, die für die Alzheimer-Krankheit relevant sind. Für jeden Bereich können von 0 (keine Auffälligkeiten) bis 3 Punkten (schwere Beeinträchtigung) vergeben werden, was in der Summe maximal 18 Punkte für eine schwere Demenz ergeben würde. Unter Lecanemab verbesserten sich die Werte des CDR-SB im Vergleich zu Placebo nach 18 Monaten um relative 27 %. Dieser Effekt war, der Studie nach, bereits nach sechs Monaten hochgradig statistisch signifikant.

Fraglicher Nutzen für den Patienten

Was sich mit „27 % Verlangsamung“ nach hoher Wirksamkeit klingt, und auch von Fachleuten als „klinisch relevant“ bezeichnet wird, ist aber bei differenzierterer Betrachtung eine Mogelpackung und der Nutzen für den Patienten bleibt fraglich. Der Grund für diese

Diskrepanz ist, dass man im ersten Moment an einen absoluten Nutzen denkt, aber es sich tatsächlich bei dieser Zahl um einen relativen Wert handelt.

Folgendes Beispiel soll dies erläutern: Eine Ware, die normalerweise 100 Euro kostet, ist um 20 Euro reduziert. Dann wäre der Nutzen eine (absolute) Ersparnis von 20 € bzw. 20 % des Kaufpreises. Gäbe es das gleiche Produkt nur um 10 € reduziert, hätte man im Vergleich zum ersten Fall 10 € weniger gespart, oder relativ ausgedrückt: 50 % weniger gespart!

Übertragen auf die Studienergebnisse im CDR-SB-Fragebogen bedeuten 27 %, dass die mit Lecanemab behandelten Patienten nach 18 Monaten, wie Biogen in einer Pressemitteilung verlauten ließ, nur 0,45 Punkte (!) besser abschnitten als die Kontrollgruppe, die ein Placebo verabreicht bekommen hatte! Daraus lässt sich ableiten, dass sich die kognitive Leistungsfähigkeit in der Kontrollgruppe nach 18 Monaten um 1,66 Punkte verschlechterte, durch die Behandlung stattdessen eine Verschlechterung um 1,21 Punkte erreicht wurde. Dabei ist aber ein Unterschied von 0,5 Punkten in der Auswertung der CDR-SB der kleinstmögliche Unterschied, den ein Untersucher beim einzelnen Patienten überhaupt dokumentieren kann! Somit bleibt fraglich, welchen Nutzen dieses Ergebnis für den einzelnen Patienten hat, denn ein Unterschied von 0,5 Punkten wird in der neurologischen-psychiatrischen Praxis als sehr gering eingestuft.

Nebenwirkungen und Kosten

Wie auch schon bei anderen Amyloid-Antikörpern beobachtet, hatte die Behandlung mit Lecanemab auch Nebenwirkungen: gefährliche Hirnschwellungen und Hirnblutungen waren in der Medikamentengruppe mit jeweils ca. 10 % der Fälle deutlich erhöht gegenüber der Placebogruppe. Mit diesem Wissen sind bei den Patienten zusätzlich regelmäßige ärztliche Kontrollen und bildgebende Untersuchungen des Gehirns notwendig, um die Gefahr rechtzeitig zu erkennen. Das bedeutet zusätzlich zu den hohen Therapiekosten, die wie am Beispiel von Aducanumab im mittleren 5-stelligen Bereich pro Jahr pro Patienten liegen können, wieder eine neue enorme Belastung für das Gesundheitssystem.

Ist Amyloid-ß der richtige Angriffspunkt?

Als ob dies alles nicht schon genug wäre: Viele Experten waren sich spätestens nach der Publikation der bekannten Nonnenstudie einig, dass das Aß nicht der Auslöser für die Alzheimerkrankheit darstellt. Schlimmer noch: Die ursprüngliche Amyloid-Hypothese wird, wie kürzlich bekannt wurde, wegen möglichen Betruges in der Alzheimer-Forschung in Frage gestellt. Man weiß heute längst, dass Aß ein Teil der Antwort des angeborenen Immunsystems ist und viele schützende Funktionen besitzt, darunter auch der Schutz vor oxidativem Stress und seine antimikrobielle Wirkung. Demnach würde eine Reduktion der Amyloid-Konzentration durch die Antikörper-Medikamente keineswegs bedeuten, dass der Erkrankungsprozess gebremst, gestoppt oder gar rückgängig gemacht werden kann. Im Gegenteil: Das Gehirn wird einer Schutzfunktion beraubt. 

Monotherapie kann bei multimodaler Erkrankung nicht effektiv sein

Die in der klinischen Studie behandelten Patienten wurden anfänglich mit hohem technischem Aufwand diagnostiziert und nur diejenigen mit Aß-Ablagerungen zur Studie zugelassen. Allerdings kann bei vielen „Alzheimerpatienten“ die Demenz auch durch andere Ursachen, wie Verengungen der Blutgefäße im Gehirn, Alkoholmissbrauch, Vitaminmangel etc. bedingt sein. Der US-Neurologe Dr. Dale Bredesen spricht sogar von 36 Ursachen, was zu 6 unterschiedlichen Ausprägungen der „Alzheimer-Erkrankung“ führen kann, denen man nur durch ein multifaktorielles individualisiertes Konzept entgegentreten kann. Dadurch wird klar, weshalb die pharmakologische Monotherapien zum Scheitern verurteilt sind und den Erkrankungsprozess weder deutlich bremsen, stoppen oder rückgängig machen können.

Fazit:

Das neue Anti-Demenz-Mittel Lecanemab konnte in der Clarity-AD-Studie bei Patienten im frühen Alzheimerstadium den geistigen Abbau nach 18 Monaten um 27 % verlangsamen. Allerdings sieht dieses vielversprechende (relative) Ergebnis in der absoluten Betrachtung eher mager aus: die kognitive Leistungsfähigkeit (bewertet durch einen Fragebogen mit maximal 18 Punkten) verschlechterte sich in der Kontrollgruppe um 1,66 Punkte, und konnte durch die Behandlung auf einen Wert von 1,21 Punkte in der Behandlungsgruppe etwas gebremst werden. Die erreichte Verbesserung von 0,45 Punkten (!) in der Lecanemab-Gruppe gegenüber der Kontrollgruppe wirft die Frage auf, welchen Nutzen dieses Ergebnis für den einzelnen Patienten hat, da ein Unterschied von 0,5 Punkten im Testergebnis in der neurologischen-psychiatrischen Praxis als sehr gering eingestuft wird. Mit einer recht hohen Rate von Nebenwirkungen wie Hirnschwellungen und -blutungen, und damit verbundenen Extrakosten für das Gesundheitssystem, stellt sich schlussendlich die Frage, ob das Amyloid-ß-Protein der richtige Ansatz für die Medikamentenentwicklung ist, zumal die Amyloid-Hypothese wegen Verdacht auf Betrug stark ins Wanken gekommen ist. Lecanemab ist also genauso ein Flop wie seine Vorgänger.

All dies scheint vor dem Hintergrund, dass wirksame, nebenwirkungsfreie und deutlich weniger kostenintensive Lebensstil-orientierte Präventions- und Therapiekonzepte zur Verfügung stehen, geradezu paradox. Zum Glück haben Sie mit diesem Wissen die Wahl, sich für die richtige Therapie für Ihre geistige Gesundheit zu entscheiden!

 In diesem Sinne: Bleiben Sie auch weiterhin gesund und geistig hellwach!

Referenzen:

  1. Söderberg L, Johannesson M, Nygren P, Laudon H, Eriksson F, Osswald G, Möller C, Lannfelt L (2022) Lecanemab, Aducanumab, and Gantenerumab – Binding Profiles to Different Forms of Amyloid-Beta Might Explain Efficacy and Side Effects in Clinical Trials for Alzheimer’s Disease. Neurotherapeutics 2022 Oct 17. doi: 10.1007/s13311-022-01308-6.
  2. D Iacono, MD, PhD, W R. Markesbery, MD, M Gross, PhD, O Pletnikova, MD, G Rudow, BS, P Zandi, PhD, and J C. Troncoso, MD The Nun Study: Clinically silent AD, neuronal hypertrophy, and linguistic skills in early life (2009) Neurology. 2009 Sep 1; 73(9): 665–673.doi: 10.1212/WNL.0b013e3181b01077
  3. https://investors.biogen.com/news-releases/news-release-details/Lecanemab-confirmatory-phase-3-clarity-ad-study-met-primary
  4. Mintun M, Lo AC, Evans CD et al. (2021) Donanemab in Early Alzheimer’s Disease. N Engl J Med 2021; 384:1691-1704, DOI: 10.1056/NEJMoa2100708