Spermidin, chemisch auch als N-(3-Aminopropyl)butan-1,4-diamin bezeichnet, gehört zu den natürlich vorkommenden Polyaminen. Der Name Spermidin ist historisch von der männlichen Samenflüssigkeit abgeleitet, aus der das biosynthetische Folgeprodukt Spermin bereits im Jahre 1870 isoliert wurde.

Spermidin kommt als natürliche Substanz im Aminosäurestoffwechsel in allen lebenden Organismen und in allen Körperzellen vor. In den Körper des Menschen gelangt das Polyamin entweder von außen durch die Zufuhr von Spermidin-haltigen Lebensmitteln (s. Tabelle 1), oder es entsteht durch die körpereigene zelluläre Biosynthese, ausgehend von der Aminosäure Arginin (s. Bild 1). Es kann aber auch durch unsere Mikrobiota, also unsere Darmbakterien, gebildet werden. Man kann den Spermidin beim Menschen im Blutplasma bestimmen. Erst kürzlich wurde in Mäusen nachgewiesen, dass Spermidin aus der Nahrung auch tatsächlich das Gehirn erreicht, somit also die Blut-Hirn-Schranke passiert[1].

Bild 1: Biosynthese von Spermidin: Spermidin ist Teil des physiologischen Polyaminsystems im menschlichen Körper. Die Ausgangsstoff ist die Aminosäure Arginin, die über Ornithin zum Putrescin umgebaut wird. Spermindin entsteht bei der Bildung von Spermin aus Putrescin, bzw. beim Abbau von Spermin (vereinfacht nach [2]).

Nahrungsmittel Gehalt an Spermidin in mg pro 100 g
Weizenkeime 24,3
Sojabohnen, getrocknet 12,8-20,7
Cheddarkäse, 1 Jahr gereift 19,9
Kürbiskerne 10,4
Pilze 8,9
Reiskleie 5,0
Hühnerleber 4,8
Erbsen 4,6

Tabelle 1 : Gehalte von Spermidin in Nahrungsmitteln (nach [3])

Spermidin kommt auch in einer Vielzahl von pflanzlichen und tierischen Nahrungsmitteln vor. Besonders reichhaltige Quellen sind Weizenkeime, aber auch Hartkäse, getrocknete Sojabohnen und einige andere Lebensmittel liefern ordentliche Mengen an Spermidin (s. Tabelle 1):

Funktionen von Spermidin im menschlichen Organismus

Spermidin wurde als sogenanntes „Kalorienrestriktionsmimetikum“ bekannt. Das bedeutet, dass es in der Lage ist, zelluläre Prozesse der Kalorienrestriktion, also des Fastens nachzuahmen. Ein wichtiger zellulärer Prozess, der beim Fasten aktiviert wird, ist die sogenannte Autophagie (aus dem Griechischen übersetzt „sich selbst essen“). Dieser Vorgang beschreibt ein molekulares Aufräum- und Recyclingprogramm, das in Zeiten von Nahrungsmangel angeschaltet wird, um Energiekrisen zu überwinden. Hierbei wird zelleigenes Material zu wiederverwertbaren Molekülen abgebaut. Dadurch werden auch zelluläre Müllhalden (wie z.B. fehlgefaltete Proteine oder beschädigte Zellorganellen) entsorgt, die im Alter beispielsweise zu Neurodegeneration und anderen (zellulären) Fehlfunktionen führen können.

Funktionell ist Spermidin eng mit dem Zellwachstum verbunden und ist in wachsenden Zellen bei der Produktion von Nukleinsäuren und Proteinen oder an der Membranstabilisierung beteiligt. Daher verwundert es nicht, dass die Spermidinwerte während Wachstumsvorgängen, in der Schwangerschaft, bei der Reparatur von Muskelzellen (nach starker sportlicher Anstrengung und Regeneration) wie auch nach Blutverlust bzw. -armut oder nach längeren Höhenaufenthalten erhöht sind, aber auch die Konzentration an körpereigenem Spermidin beim Altern abnimmt.

Heute weiß man, dass sich erhöhte Konzentrationen von Spermidin positiv auf kardiovaskuläre und tumorbedingte Erkrankungen und prinzipiell auf alle chronisch entzündliche Erkrankungen (z.B. Rheuma, Hepatitis, Colitis, Psoriasis) auswirken können, da es einen wesentlichen Beitrag zur Zellhomöostase, zum Zellwachstum und -proliferation, zur Geweberegeneration und zur antioxidativen Wirkung leistet[4]. In Bild 2 sind alle bislang bekannten günstigen Effekte von Spermidin auf physiologische Vorgänge und auch seine modulierenden Wirkungen auf pathologische Prozesse illustriert.

Bild 2: Protektive und modulierende Effekte von Spermidin[5]

Neuroprotektive Effekte von Spermidin – Präklinische Evidenz

Aufbauend auf diesen gut belegten altersprotektiven und Autophagie-fördernden Eigenschaften von Spermidin rückte in den letzten Jahren eine mögliche Neuroprotektion in den Fokus der Spermidinforschung.

So wurde in einer bahnbrechenden Studie bereits 2013 gezeigt, dass in Fruchtfliegen der altersbedingte Gedächtnisverlust, ähnlich wie beim Menschen durch eine Spermidinfütterung abgeschwächt werden kann. Fruchtfliegen (lat. Drosophila) sind in der Wissenschaft ein recht aussagekräftiges und vor allem einfaches Versuchsmodell, um Alterungsprozesse, Demenzerkrankungen und grundlegende Abläufe im Gehirn zu erforschen. Das ist recht erstaunlich für einen Organismus, der nur einen Monat alt wird und dessen Gehirn „nur“ aus 250.000 Nervenzellen besteht. Aber das Altern läuft in der kurzlebigen Drosophila schneller ab und das vergleichsweise einfach aufgebaute Gehirn lässt deutlich einfacher studieren [6].

Diese günstigen Effekte von Spermidin wurden auch in Nagetiermodellen bestätigt:

  • So konnte gezeigt werden, dass eine lebenslange Fütterung von Ratten mit Spermidin die Neuroinflammation, also die Entzündungsbereitsschaft des Gehirns, verringerte und bestimmte kognitive Funktionen verbesserte [7].
  • Auch in seneszenzbeschleunigten Mäusen P8 (SAMP8), also Mäusen, die schneller senil werden, zeigten sich relevante positive Effekte. Diese Versuchstiere sind ein hervorragendes Modell für Studien von frühen Lern- und Gedächtnisprobleme und somit ein wichtiges Werkzeug in der Alzheimer-Grundlagenforschung. Die Gehirne dieser SAMP8-Tiere produzieren übermäßig große Mengen an Amyloid-Beta- und Tau-Proteinen, beides typische Markerproteine für Alzheimer Demenz. Einer Forschergruppe gelang 2020 mit Hilfe dieses Tiermodells der Beweis, dass Spermidin die altersbedingte Demenz lindern kann: Spermidin reduzierte die mitochondriale Dysfunktion verhinderte das Absterben von Nervenzellen und Entzündungen und verbesserte die Ausschüttung wichtiger neurotropher Faktoren, und wirkte somit diesen Risikofaktoren für die Demenz entgegen [8].

Neuroprotektive Effekte von Spermidin– Evidenz am Menschen

Zu der mittlerweile sehr soliden präklinischen Evidenz in verschiedenen Tiermodellen für Spermidin als neuroprotektives Molekül gesellen sich immer mehr Humanstudien.

Eine Forschergruppe der Berliner Charite untersuchte 2018 in einer Pilotstudie am Menschen, der sogenannte PreSmartAge-Studie, ob Spermidin einen positiven Einfluss auf die Gedächtnisleistung bei Patienten mit leichten kognitiven Einschränkungen ausüben könnte [9]. Dazu wurden 30 Teilnehmer zwischen 60 und 80 Jahren, welche unter einem selbst eingeschätzten, aber noch nicht klinisch manifestiertem Verlust der Gedächtnisfunktion litten, für eine randomisierte Doppelblindstudie rekrutiert. Die Probanden schnitten nach 3 Monate langer Einnahme von 750 mg eines Spermidin-reichen Pflanzenextrakts, welcher eine Spermidin-Menge von 1,2 mg enthielt, in einem kognitiven Performance-Test besser ab als die Placebo-Gruppe. Die Einnahme von Spermidin über die Nahrung wirkte sich also positiv auf die Gedächtnisleistung bei älteren Erwachsenen mit beginnendem kognitivem Abbau aus. Diese positive Wirkung könnte, so schlussfolgerten die Forscher, durch die Stimulierung neuromodulatorischer Aktionen im Gedächtnissystem vermittelt werden [9].

Aufgrund der vielversprechenden Ergebnisse findet aktuell eine größer und länger angelegte Studie von derselben Forschungsgruppe statt: diese sog. SmartAge-Studie, eine randomisierte 12-monatige klinische Studie, zu der 100 Patienten mit beginnendem kognitivem Abbau rekrutiert wurden, soll dazu beitragen, das therapeutische Potenzial der Spermidin-Supplementierung zu validieren und mögliche neurophysiologische Wirkmechanismen zu beschreiben [10]. Die Ergebnisse dieser Studie sind allerdings noch nicht publiziert – wir werden Sie auf dem Laufenden halten!

Parallel zu der SmartAge-Studie wurde kürzlich eine Querschnittsstudie durchgeführt, die den Zusammenhang zwischen der Spermidinaufnahme und strukturellen Hirnmessungen untersuchte. Dazu wurde 108 Patienten mit subjektiv wahrgenommenen kognitiven Einschränkungen und 51 gesunden Probanden eine mediterrane Diät verordnet und die Spermidin-Aufnahme in dieser Ernährungsweise berechnet und dokumentiert. Das Ergebnis war, dass die Spermidin-Aufnahme positiv mit einer größeren Dicke der Großhirnrinde (kortikale Dicke) in Alzheimer-gefährdeten Hirnregionen korrelierte. Auch stand die Spermidinaufnahme in Zusammenhang mit einem größeren Volumen des Hippocampus, dem Teil des Gehirns, der funktionell vor allem an der Bildung und Aufrechterhaltung von Gedächtnisinhalten sowie an Lernprozessen beteiligt ist. Die Autoren schlossen daraus, dass in der mediterranen Ernährung das Spermidin ein entscheidender Bestandteil für die Gesundheit des Gehirns sein könnte [11].

Das vor Demenz schützende Potenzial von Spermidin wurde aktuell auch in einer dreimonatigen multizentrischen Interventionsstudie in Österreich bestätigt [12]. Die Forscher konnten zeigen, dass der Spermidin-Spiegel nicht nur mit zunehmendem Alter absinkt, sondern auch bei Alzheimer und MCI-Patienten signifikant erniedrigt ist [12] [13]. In der logischen Konsequenz würde einem niedrigen Spiegel im Blut dann die orale Supplementation mit Spermidin folgen. In der österreichischen Studie wurde dies gemacht, mit dem Ergebnis, dass durch die Erhöhung des Spermidin-Plasmaspiegels bei Patienten mit leichten kognitiven Einschränkungen innerhalb von 3 Monaten bereits zu einer Verbesserung der Gedächtnisleistung geführt hat.

Nach dem heutigen Kenntnisstand sprechen die Forscher dem physiologischen Polyaminsystem (s. Bild 1) daher eine wichtige körpereigene Schutzfunktion zu. Mehr noch: Man erhofft sich, dass man die Messung von Spermidin als möglichen Biomarker-Kandidat in Zukunft auch dazu nutzen könnten, die Alzheimer-Erkrankung bereits vor dem Auftreten der Funktionsdefizite vorherzusagen.

Schauen Sie sich dazu gerne das Video „Alzheimer: Essen gegen das Vergessen ORF treffpunkt Medizin“ in unserer Mediathek an.

Fazit

Aufgrund dieser klaren wissenschaftlichen Datenlage gilt das natürlich vorkommende Polyamin Spermidin mittlerweile als vielversprechende Substanz, die das Potential hat, das Erkrankungsrisiko für eine Demenz zu reduzieren. Eine logische Konsequenz dieser Studien besteht in der oralen Einnahme von Spermidin, wenn der Labornachweis eine zu geringe Konzentration im Blut ergeben hat. Dies wird in Österreich bereits erfolgreich in Pflegeheimen umgesetzt.

Weiterhin ist die Hoffnung groß, dass man die Messung von Spermidin im Blut in Zukunft möglicherweise dazu nutzen könnten, die Alzheimer-Erkrankung bereits vor dem Auftreten der Funktionsdefizite vorherzusagen.

 Auch Sie können dieses Wissen direkt für sich nutzen: Setzen Sie täglich Spermidin-reiche Nahrungsmittel auf Ihren Speiseplan, wie z.B. Weizenkeime: ein gehäufter Esslöffel enthält bereits 1-2 mg des schützenden Polyamins! Auf diese Weise können auch Sie direkt von den hirnschützenden Eigenschaften des Polyamins profitieren und geistig noch lange hellwach bleiben!

Referenzen:

  1. Schroeder et al.; 2021; Dietary spermidine improves cognitive function. Cell Reports. 35(2):108985. doi: 10.1016/j.celrep.2021.108985;
  2. Soda K (2022) Overview of Polyamines as Nutrients for Human Healthy Long Life and Effect of Increased Polyamine Intake on DNA Methylation. Cells 4;11(1):164. doi: 10.3390/cells11010164.
  3. Ali MA, Poortvliet E, Strömberg R, Yngve A: Polyamines in foods: development of a food database. In: Food & Nutrition Research. Band 55, Nr. 1, 1. Januar 2011, S. 5572, doi:10.3402/fnr.v55i0.5572
  4. Madeo F, Eisenberg T, Pietrocola F, Kroemer G. Spermidine in health and disease. Science. 2018;359(6374):eaan2788. https://doi.org/10.1126/science.aan2788.
  5. Ni YQ & Liu YS (2021) New Insights into the Roles and Mechanisms of Spermidine in Aging and Age-Related Diseases. Aging Dis. 2021 Dec; 12(8): 1948–1963. doi: 10.14336/Alzheimer Demenz.2021.0603
  6. Gupta VK, Scheunemann L, Eisenberg T, Mertel S, Bhukel A, Koemans TS, et al. (2013). Restoring polyamines protects from age-induced memory impairment in an autophagy-dependent manner. Nat Neurosci, 16:1453-1460. doi: 10.1038/nn.3512.
  7. Filfan et al., 2020; Long-term treatment with spermidine increases health span of middle-aged Sprague-Dawley male rats. GeroScience. doi: 10.1007/s11357-020-00173-5
  8. Xu TT, Li H, Dai Z, Lau GK, Li BY, Zhu WL, et al. (2020). Spermidine and spermine delay brain aging by inducing autophagy in SAMP8 mice. Aging (Albany NY), 12:6401-6414. doi: 10.18632/aging.103035)
  9. ↑1 ↑2 Wirth M, Benson G, Schwarz C, Köbe T, Grittner U, Schmitz D, et al. (2018). The effect of spermidine on memory performance in older adults at risk for dementia: A randomized controlled trial. 109: 181–188. doi: 10.1016/j.cor-tex.2018.09.014
  10. Wirth M, Schwarz C, Benson G, et al. (2019) Effects of spermidine supplementation on cognition and biomarkers in older adults with subjective cognitive decline (SmartAge)-study protocol for a randomized controlled trial. Alzheimer’s Res. Ther., 11 (2019), p. 36ff. (https://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT03094546)
  11. Schwarz C, Horn N, Benson G, Wrachtrup Calzado I, Wurdack K, Pechlaner R, Grittner U, Wirth M, & Flöel A (2020). Spermidine intake is associated with cortical thickness and hippocampal volume in older adults. NeuroImage, 221, 117132. doi: 10.1016/j.neuroimage.2020.117132
  12. ↑1 ↑2Pekar et al., 2021; The positive effect of spermidine in older adults suffering from dementia. Wiener Klinische Wochenschrift. 133(9): 484–491. doi: 10.1007/s00508-020-01758-y
  13. Joaquim HPG, Costa AC, Forlenza OV et al. Decreased plasmatic spermidine and increased spermine in mild cognitive impairment and Alzheimer’s disease patients. Arch Clin Psychiatry. 2019;46(5):120-4