Wie schädigen Toxine das Gehirn?

Eine langfristige Belastung mit demselben Umweltschadstoff, selbst in geringen Mengen, führt zu einer Bioakkumulation, d. h. kleine Mengen reichern sich im Laufe des Lebens in Organen und Geweben an und können zu negativen gesundheitlichen Folgen führen. Einige Studien zeigen, dass eine solche Anreicherung eine Entzündung des Gehirns (Neuroinflammation) auslösen und eine Kette von neuropathologischen Veränderungen hervorrufen kann, die zur Entwicklung der Alzheimer-Krankheit und anderer neurodegenerativer Erkrankungen führen.

Darüber hinaus gibt es eine wachsende Zahl von Studien, die sich mit dem Einfluss der Schadstoffbelastung in der frühen Kindheit auf neurologischen Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson, aber auch entwicklungsbezogenen neurologischen Störungen wie Autismus-Spektrum-Störungen (ASD) und Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) befassen. Es ist bereits bekannt, dass das frühe Leben für die Reifung des Gehirns von entscheidender Bedeutung ist und dass zahlreiche Umweltfaktoren, die in dieser Zeit auftreten, die langfristige Funktionalität des Gehirns erheblich beeinträchtigen können, was wiederum starke Auswirkungen auf die lebenslange Gesundheit hat.

Durch das Konzept Developmental Origins of Health and Disease (DOHaD) (übersetzt: entwicklungsbedingte Ursprünge von Gesundheit und Krankheit) ist nun klar, dass ungünstige Umstände in der frühen Kindheit das Krankheitsrisiko während des gesamten Lebens beeinflussen. So spielen Umweltfaktoren von der Empfängnis bis zum Alter von 2 Jahren (den sehr wichtigen ersten 1000 Lebenstagen) eine entscheidende Rolle bei der Anfälligkeit eines Menschen für die Entwicklung chronischer Krankheiten im späteren Alter, einschließlich der Alzheimer-Krankheit. Persistente organische Schadstoffe, wie beispielsweise viele verwendeten Pflanzenschutzmittel (Pestizide), können die epigenetische DNA-Methylierung und damit die Neuroentwicklung beeinflussen und das Risiko für neurodegenerative Erkrankungen erhöhen.

Was macht das Gehirn so empfindlich gegenüber Giften im Vergleich zu anderen Organen?

  • Anatomische Beschränkungen: Das menschliche Gehirn ist durch eine harte Knochenschicht – den Schädelkasten – geschützt, die eine größere Volumenvergrößerung, z. B. durch Ödeme, nicht zulässt. Toxine, die den intrakraniellen Druck verändern, können die Funktion der Neuronen dramatisch verändern und möglicherweise tödlich sein.
  • Energieversorgung: Das menschliche Gehirn hat einen hohen Stoffwechsel und verbraucht etwa 20 % des Sauerstoffs und 25 % der Glukose des gesamten Körpers. Es verfügt jedoch nur über geringe Energiereserven und eine sehr geringe anaerobe Aktivität (es kann ohne Sauerstoff und Nährstoffe nicht effektiv arbeiten). Giftstoffe, die die Energieproduktion stören, haben verheerende Folgen für das Nervensystem.
  • Chemische Übertragung im Raum zwischen den Zellen: Die Kommunikation zwischen den Zellen des Nervensystems erfolgt durch die Freisetzung von chemischen Signalen, der sogenannten Neurotransmitter. Die Freisetzung, die Wiederaufnahme und der Stoffwechsel von Neurotransmittern sind hochgradig reguliert, und jede Störung in diesem System kann die Funktion der Neuronen beeinträchtigen und zu Neurodegeneration führen.
  • Begrenzte zelluläre Regenerationsfähigkeit: Die Fähigkeit des Gehirns, Zellverluste zu kompensieren, ist viel geringer als bei anderen Organsystemen, wodurch es besonders empfindlich auf toxische Belastungen reagiert, was zu dauerhaften Folgen führen kann.
  • Lipidreiche Umgebung: Der hohe Lipidgehalt des Nervensystems ist sehr anfällig für Lipidperoxidation – eine schwerwiegende Form von oxidativem Stress – und erleichtert die Ausbreitung von lipidlöslichen Toxinen.

Durch welche Prozesse verursachen Toxine die Neurodegeneration?

  • Zerstörung der Blut-Hirn-Schranke: Einige Toxine, wie z. B. Schwermetalle, erhöhen die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke und können den gesamten Neurodegenerationsprozess auslösen, der bei der Alzheimer-Krankheit beobachtet wird.
  • Oxidativer Stress: Die überwiegende Mehrheit der toxischen Agenzien wirkt durch oxidativen Stress, d. h. durch einen starken Anstieg der Produktion freier Radikale ohne ausreichende Antioxidantien. Anzeichen für oxidative Schäden gehen anderen pathologischen Ereignissen bei der Alzheimer-Krankheit voraus und sind ein frühes Ereignis in der Pathogenese der Krankheit
  • Protein-Aggregation: Umweltneurotoxische Substanzen können die Proteinverarbeitung stören und zur Neurodegeneration führen. Die Ablagerung von Amyloid-Beta– und Tau-Protein kann durch das Vorhandensein bestimmter Toxine im Nervensystem ausgelöst werden.
  • Mitochondriale Dysfunktion: Umweltgifte können die Funktion der Mitochondrien beeinträchtigen, wodurch die Energieversorgung der Neuronen gestört wird und es zu Neurodegeneration kommt.

Der Zusammenhang zwischen der Exposition gegenüber Umweltschadstoffen und der Alzheimer-Krankheit ist zwar noch nicht vollständig bewiesen, wird jedoch seit vielen Jahren in Studien bestätigt. Personen, die Schadstoffen ausgesetzt sind (durch berufliche Exposition oder durch das Leben in Regionen mit hoher Schadstoffanreicherung in der Umwelt) oder die höhere Blutspiegel von toxischen Substanzen aufweisen, haben ein höheres Risiko, an Demenz zu erkranken. Die meisten dieser Studien werden in Umwelt- oder Toxikologie-Fachzeitschriften veröffentlicht, während sie in medizinischen Fachzeitschriften (merkwürdigerweise) kaum behandelt werden.

Einige In-vitro-Studien und Studien an Tiermodellen haben toxische Wirkungen von Umweltschadstoffen auf zellulärer Ebene identifiziert und Veränderungen in Stoffwechselvorgängen und -reaktionen aufgezeigt, die mit der Alzheimer-Pathologie in Verbindung gebracht werden. Dies erfordert weitere Untersuchungen. Doch selbst wenn es solide Beweise für den negativen Einfluss von Toxinen auf die kognitive Gesundheit gibt, sind Studien in diesem Bereich Mangelware.

Eine große Schwierigkeit bei der Untersuchung der Umweltfaktoren, die die Alzheimer-Krankheit verursachen, ist die lange Latenzzeit der Krankheit, d. h. der Zeitraum zwischen der Exposition und dem Auftreten der Symptome. Umweltstudien zur Alzheimer-Krankheit untersuchen häufig die Exposition zum Zeitpunkt des Auftretens der klinischen Symptome, obwohl relevante Expositionen Jahre oder Jahrzehnte zuvor oder möglicherweise sogar während des frühen Lebens aufgetreten sein können. Einige Hirnveränderungen sind beispielsweise auf Belastungen während der Neuroentwicklung (im Mutterleib und im Säuglingsalter) zurückzuführen, manifestieren sich aber erst später im Leben.

Eine weitere Einschränkung ist die Tatsache, dass es aus ethischen Gründen nicht möglich ist, eine intervenierende Fall-Kontroll-Studie durchzuführen, wie wir es bei Arzneimitteln tun, da die Substanzen bekanntermaßen oder vermutlich für den Menschen toxisch sind. Forschung mit Toxinen am Menschen könnte demzufolge großen gesundheitlichen Schaden anrichten.

Dies sind einige der Gründe, mit denen versucht wird, die begrenzte Anzahl von Studien über aggressive Wirkstoffe und die Alzheimer-Krankheit zu rechtfertigen. In diesem Zusammenhang weiß man aber bereits folgendes:

  • Epidemiologische Studien sollten stärker in den Vordergrund gerückt werden, wenn es um das Thema Toxizität geht
  • „Das Fehlen von Beweisen für Schäden (aufgrund fehlender Informationen!) ist kein Beweis für das Fehlen von Schäden.“ – Diese Maxime passt hier sehr gut.
  • Wir sollten uns bemühen, die Exposition gegenüber allen toxischen Stoffen, die potenziell die Neurodegeneration fördern können, während des gesamten Lebens so weit wie möglich zu reduzieren.
  • Die kollektive Gesundheitspolitik muss darauf ausgerichtet sein, die Verwendung von toxischen Stoffen in der Umwelt stärker zu kontrollieren.

In den nachfolgenden Seiten werden die wichtigsten Giftstoffe, die mit der Alzheimer-Krankheit in Verbindung gebracht werden, nochmals einzeln behandelt und ihre jeweilige Wirkungsweise beschrieben.

Referenzen

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