Kann die Operation beim Grauen Star das Demenzrisiko senken? Eine neue Studie zeigt, wie eine gute Sehleistung bei älteren Menschen die Kognition schützen kann
Die Hauptaufgabe des Nervensystems besteht darin, den lebenden Organismus an die Umwelt anzupassen. Um diese Aufgabe zu erfüllen, ist die Grundvoraussetzung, dass wir zunächst einmal richtig wahrnehmen, was um uns herum geschieht. Durch unsere Sinne, wie Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten, können wir Veränderungen in der Umwelt erfassen, die unser Gehirn dazu anregen, wirksame Anpassungsreaktionen zu planen und auszuführen – auf diese Weise funktioniert unser Nervensystem richtig.
Beim Menschen sind die mit Abstand wichtigsten Sinnesorgane die Augen. Wir nehmen bis zu 80 % aller Eindrücke über unser Sehvermögen wahr. Diese Eindrücke stimulieren direkt die Großhirnrinde und aktivieren unsere kognitiven Fähigkeiten. Forscher haben herausgefunden, dass dieser Zusammenhang sogar so weit führt, dass die Aufrechterhaltung einer guten Sehschärfe während des Alterns eine wichtige Strategie zur Verringerung des kognitiven Abbaus sein kann.
Sinneseinschränkungen wie Seh- aber auch Hörverlust wurden bereits in vielen früheren Studien mit kognitivem Abbau in Verbindung gebracht. Die Beeinträchtigung eines oder mehrerer Sinne kann zu sozialer Isolation, verminderter kognitiver Stimulation und verringerter körperlicher Aktivität führen. Diese stellen allesamt Risikofaktoren für eine Demenzerkrankung dar und können somit die Wahrscheinlichkeit einer solchen Erkrankung erhöhen. Insbesondere Sehstörungen im höheren Alter wurden mit einem höheren Risiko für Demenz in Verbindung gebracht: je geringer die Sehfähigkeit einer Person ist, desto höher ist das Demenzrisiko.
Mehrere Augenkrankheiten, wie die altersbedingte Makuladegeneration1 und die diabetische Retinopathie2, wurden bereits in früheren Studien mit einem erhöhten Risiko für Alzheimer und Demenz in Zusammenhang gebracht. Auch der Graue Star, auch Katarakt genannt und die weltweit häufigste Ursache für Erblindung, wird ebenfalls mit einem höheren Demenzrisiko in Verbindung gebracht.
Der Graue Star (Katarakt) ist ein natürlicher Alterungsprozess des Auges und betrifft die meisten Erwachsenen im Alter von über 65 Jahren. Katarakte werden durch Eintrübungen im Bereich der Augenlinse verursacht, die sich meist langsam entwickeln und ein oder beide Augen betreffen können. Der zugrunde liegende Mechanismus beruht auf der Ansammlung von Eiweißklumpen in der Linse, die normalerweise durchsichtig ist. Diese Eiweißablagerungen verringern die Lichtdurchlässigkeit durch die Linse zur Netzhaut, was zu einer verminderten Sehkraft führt. Katarakte können durch einen recht unkomplizierten chirurgischen Eingriff entfernt werden, und die meisten Patienten sehen nach dem Eingriff wieder gut.
Könnte eine Katarakt-Operation also das Demenzrisiko verringern?
Um diese Frage zu beantworten, wurden in einer aktuellen Studie 3038 Patienten mit Grauem Star untersucht, die über 65 Jahre alt waren und bei denen zu Beginn der Nachbeobachtung keine Demenz diagnostiziert wurde. Davon unterzogen sich 1382 Patienten einer Kataraktoperation und 1652 nicht. Die Studie zeigte, dass das Risiko, an einer Demenz zu erkranken, bei Teilnehmern, bei denen eine Kataraktextraktion durchgeführt wurde, deutlich geringer war als bei Personen, die sich keiner Kataraktoperation unterzogen haben.
Um Störfaktoren zu minimieren, untersuchten die Autoren auch 728 Teilnehmer, bei denen ein Glaukom diagnostiziert worden war. Diese ist eine andere Augenkrankheit, die den Sehnerv angreift und zu einem Sehverlust führen kann. Hierbei handelt es sich jedoch um einen anderen Mechanismus und somit unterschiedlichen Krankheitsverlauf als beim Grauen Star. Eine chirurgische Behandlung des Glaukoms wurde nicht mit einer Verringerung des Demenzrisikos in Verbindung gebracht, d. h. es war nicht die Operation selbst, die das Risiko verringerte. Dadurch wurde ein möglicher Placebo-Effekt ausgeschlossen.
Die Autoren wiesen auf einige Mechanismen hin, die das geringere Demenzrisiko bei Patienten, die sich einer Kataraktextraktion unterziehen, erklären könnten:
- Die durch den Grauen Star verursachte Sehbehinderung kann zu psychosozialen Schwierigkeiten und damit zu einer geringeren Beteiligung an sozialen Aktivitäten und Sport führen – allesamt Faktoren, die den kognitiven Abbau beschleunigen.
- Die Sehbehinderung durch den Grauen Star kann die neuronale Stimulation verringern und damit die Neurodegeneration beschleunigen. Der visuelle Kortex, der Teil der Großhirnrinde, in dem die Verarbeitung der visuellen Reize stattfindet, erfährt bei Sehkraftverlust strukturelle Veränderungen.
- Die Kompensation des Defizits an visuellem Input kann die kognitive Belastung erhöhen, d. h. der Patient verliert mehr Zeit, um Veränderungen in der Umgebung zu erkennen und wahrzunehmen, was zu „neuronalem Stress“ führt, der den kognitiven Verfall noch beschleunigen kann.
- Das geringere Risiko, nach einer Kataraktextraktion an Demenz zu erkranken, könnte auch mit der erhöhten Quantität und Qualität des Lichts zusammenhängen, das die Netzhaut erreicht, einschließlich des blauen Lichts, das die Aktivität der Großhirnrinde stimuliert.
Trotz ihrer Einschränkungen unterstreicht diese Studie die Bedeutung einer guten Sehschärfe für die Erhaltung der Gesundheit des Gehirns und zeigt, dass die Kataraktoperation mit einem geringeren Demenzrisiko verbunden ist. Da der Graue Star bei einer routinemäßigen Augenuntersuchung ohne kompliziertere Tests diagnostiziert werden kann und die Kataraktoperation als einfacher Eingriff gilt, sollten Präventivmaßnahmen zur Kataraktdiagnose und -behandlung bei älteren Patienten gefördert werden, da sie das Auftreten von Demenz verringern können.
Fazit:
Der Graue Star, auch Katarakt genannt, ist eine altersbedingte Veränderung des Auges, die zu einem fortschreitenden Sehverlust führt und in der älteren Bevölkerung recht häufig vorkommt. Die Diagnose des Grauen Stars wird durch eine einfache augenärztliche Untersuchung gestellt, und eine chirurgische Behandlung, die als risikoarm gilt, führt in den meisten Fällen zu einer guten Erholung des Sehvermögens. In dieser Studie zeigte sich ein Zusammenhang zwischen der Kataraktkorrektur und einem geringeren Demenzrisiko, was sich durch die Wiederherstellung des Sehvermögens erklären lässt. Das Sehen ist ein sehr wichtiger Sinn für die Interaktion des Einzelnen mit der Umwelt und für die Erhaltung der Gesundheit des Gehirns. Ältere Patienten sollten ihren Augenarzt daher regelmäßig aufsuchen, um ihre Sehschärfe zu überprüfen. Im Falle einer Katarakt-Diagnose sollte der Nutzen einer Operation unbedingt unter Berücksichtigung ihres positiven Einflusses auf die Kognition des Patienten bewertet werden.
Anmerkungen:
- Die Makuladegeneration geht mit dem allmählichen Verlust der Sehfähigkeit im Bereich des schärfsten Sehens einher. Dieser Bereich liegt zentral auf der Netzhaut des Auges und wird aufgrund seiner Farbe „Gelber Fleck“ (lat. Fachbegriff „Makula lutea“) bezeichnet.
- Die diabetische Retinopathie bezeichnet Veränderungen an der Netzhaut (Retina), die sich infolge einer Zuckerkrankheit (Diabetes) entwickelt haben. Bei einem lange bestehenden oder schlecht eingestellten Diabetes kommt es zu krankhaften Gefäßveränderungen und Durchblutungsstörungen der Netzhaut.
Referenz:
Lee CS, Gibbons LE, Lee AY, Yanagihara RT, Blazes MS, Lee ML, McCurry SM, Bowen JD, McCormick WC, Crane PK, Larson EB. Association Between Cataract Extraction and Development of Dementia. JAMA Intern Med. 2022 Feb 1;182(2):134-141. doi: 10.1001/jamainternmed.2021.6990. PMID: 34870676; PMCID: PMC8649913.