Erwachen aus tiefer Demenz: Lieblingsmusik als Schlüssel zum Gedächtnis

4,3 Minuten LesezeitVeröffentlicht am: 12. Mai 2021Von Kategorien: Behandlungsformen, Klinische Studien, Prävention

Es scheint wie ein Wunder: ein Alzheimer-Patient im späten Stadium, völlig versunken in der Demenz und abgekapselt von seiner Umwelt und seiner eigenen Identität. Doch wenn er die Klänge von für ihn ausgewählten vertrauten Musikstücken aus seinem früheren Leben hört, wacht aus seiner Apathie auf, beginnt zu lachen, zu reden, sich zu bewegen und wird wieder ‚lebendig’!

Dieses Phänomen ist so eindrucksvoll und bewegend, dass der Fernsehsender ARTE es in der sehenswerten Dokumentation ‚Alive Inside – Die Musik meines Lebens’ aufgegriffen und verfilmt hat. Sie finden das Video bis zum 31. Mai 2021 in voller Länge im Downloadbereich von ARTE unter https://www.arte.tv/de/videos/070804-000-A/die-musik-meines-lebens/

Personalisierte Musik kann für Menschen, die an Alzheimer und Demenz leiden, viel mehr sein als nur Klänge, Töne und Melodien. Für Patienten im weit fortgeschrittenen Stadium können diese Lieblingslieder aus längst vergangener Zeit wertvolle Erinnerungen freisetzen und sie wieder mit Familie und Freunden in der Welt um sie herum verbinden.

Auch die Wissenschaft beschäftigt sich mit dem Thema Musik und Demenz. Aktuelle Studien haben messbare symptomatische Verbesserungen im Zusammenhang mit personalisierter Musiktherapie nachgewiesen:

So konnten Forscher der University of California in der umfassendsten Studie dieser Art zeigen, dass personalisierte Musik eine enorm günstige Wirkung auf angstbesetzte Verhaltensweisen bei Demenzpatienten hat. Es wurden nicht nur signifikant weniger Medikamente eingesetzt, auch hat sich die Häufigkeit von Depressionen und aggressiven Verhaltensweisen deutlich verringert (1).

Weiterhin lieferte eine Interventionsstudie in Kooperation mit der Stony Brook University School of Medicine in New York erste Ergebnisse, dass das Hören von vertrauten Musik-Playlisten Schluckstörungen bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz verbessert. Dies könnte langfristig zu besseren Ernährungsergebnissen bei Demenzpatienten führen, Komplikationen durch Aspiration und die Notwendigkeit von Ernährungssonden verringern (2).

Wichtig ist dabei, dass Musik eingesetzt wird, die jeweils biographisch von Bedeutung ist. Dazu gehören beispielsweise die Lieblingslieder aus der Kindheit und der Jugend. Während (nicht personalisierte) Live-Musik, Hintergrund- oder Entspannungsmusik weniger Nutzen für die Lebensqualität von Alzheimer-Patienten brachte, haben dagegen persönlich vertraute Musikprogramme in aktuellen Studien deutliche Verbesserungen in der Symptomatik von Patienten mit fortgeschrittener Demenz gezeigt.

Aber was tatsächlich bewirkt die Lieblingsmusik der Kindheit im Gehirn eines Alzheimerpatienten?

Dieser Frage gingen Forscher der University of Utah nach und lieferten erstmalig objektive Beweise mit bildgebender Diagnostik: biographisch bedeutungsvolle Musik könnte ein alternativer Weg für die Kommunikation mit fortgeschrittenen Alzheimer-Patienten sein (3). Dazu suchte das Forscherteam nach bedeutungsvollen Liedern aus der jeweiligen Biographie der Patienten und jeder Teilnehmer erhielt eine auf sich zugeschnittene Musiksammlung mit seinen Lieblingsliedern. Mit Hilfe einer bildgebenden Methode, der funktionellen Magnetresonanz oder kurz fMRT, untersuchten die Forscher die aktiven Gehirnregionen der Patienten, während sie der personalisierten Musik (auch rückwärts abgespielt) zuhörten, und verglichen die Bilder mit denen, die in stillen Momenten aufgenommen wurden.

Sie fanden heraus, dass die persönlichen Soundtracks viele Regionen des Gehirns, darunter das Salienznetzwerk, aber auch das visuelle Netzwerk, das exekutive Netzwerk und Teile des Kleinhirns (mit seinen Verbindungen zur Großhirnrinde) nicht nur aktivierten, sondern auch dazu brachten, miteinander zu kommunizieren und somit eine deutlich höhere funktionelle Verbindung dieser Regionen erzeugten.

Ein besonderes Augenmerk war in der Studie auf das sogenannte Salienznetzwerk gerichtet: Dieses Hirnareal ist beispielsweise für die Gänsehaut zuständig, die man beim Hören eines besonders bewegenden Musikstücks bekommt. Der Grund hierfür ist, dass das Salienznetzwerk des Gehirns eng mit Belohnungsschaltkreisen verbunden ist. Überraschenderweise ist die Salienz-Region eine Insel des Gedächtnisses, die lange Zeit von dieser Zerstörung verschont bleibt. Insofern ist das Gehirnregion besonders interessant für eine Therapie im späten Stadium, selbst wenn sprachliche und visuelle Gedächtnisbahnen bereits zerstört sind: sie könnte der Schlüssel für effiziente musikbasierte Behandlungen sein.

Diese Studie bildet aber erst den Anfang: Die Teilnehmerzahl war mit 17 Teilnehmern doch recht klein für zuverlässige Schlussfolgerungen. Auch fand in der Studie nur eine einzige Bildgebungssitzung für jeden Patienten statt. So bleibt weiterhin unklar, ob wie die beobachteten Effekte tatsächlich anhalten und ob noch weitere Bereiche des Gedächtnisses beteiligt sind. Aber alles in allem sind die Studienlage der letzten Jahre mehr als vielversprechend und mit den zunehmenden Demenzdiagnosen in unserer Gesellschaft, die die finanziellen und menschlichen Ressourcen bis aufs Äußerste strapazieren, sollte jede Möglichkeit wahrgenommen werden, die Alzheimer-Symptome verbessert oder zumindest kontrollierbarer macht.

Bitte schauen Sie für weitergehende Informationen zu diesem spannenden Thema unter Musiktherapie bei ‚Kompetenz statt Demenz’ vorbei, damit Sie weiterhin bestens informiert sind!

Wir möchten Sie in diesem Zusammenhang auch auf unserer Partner-Initiative der ‘Singenden Krankenhäuser’ verweisen. Dieses Projekt hat sich zur Aufgabe gemacht, die heilsame Kraft des Singens für Menschen zu nutzen und erlebbar zu machen. Hier finden Sie die Kontaktdaten und weitere Informationen zu diesem wertvollen Projekt.

 

Fazit:

Aktuelle Studien konnten zeigen, dass personalisierte Musiktherapie auch noch bei stark fortgeschrittener Demenz im Gehirn positiv auf das Aufmerksamkeits- und Belohnungszentrum in der Salienzregion des Gehirns auswirkt. Diese Gehirnareale blieben im Krankheitsverlauf funktionell noch sehr lange erhalten und werden durch die vertraute Musik wieder dazu aktiviert, neue Verbindungen mit benachbarten Hirnregionen einzugehen. Dadurch werden über die Brücke der Musik wieder Erinnerungen an ‚früher’ geweckt. Gerade Patienten, die den Kontakt zu ihrer Umwelt und zu sich selbst verloren haben, kann die Musik wieder – zumindest für kurze Zeit – in ihre Identität und ins Leben zurückholen, ihnen ihre Angst nehmen, ihre Symptomatik abmildern und damit ihre Lebensqualität deutlich verbessern.

 

Jace B. King, der Erstautor der JPAD-Studie, hätte es nicht besser ausdrücken können:

„Musik ist wie ein Anker, der den Patienten wieder in der Realität erdet.“

 

Referenzen:

  1. D Bakerjian, K Bettega, A M Cachu, L Azzis, S Taylor. The Impact of Music & Memory on Resident Level Outcomes in California Nursing Homes. Journal of the American Medical Directors Association (JAMDA), Volume 21, Issue 8, August 2020, Pages 1045-1050.
  2. D Cohen , S G Post, A Lo , R Lombardo , B Pfeffer. „Music & Memory“ and improved swallowing in advanced dementia. Dementia (London) 2020 Feb;19(2):195-204
  3. J B King 1 , K G Jones, E Goldberg, M Rollins, K MacNamee, C Moffit, S R Naidu, M A Ferguson, E Garcia-Leavitt, J Amaro, K R Breitenbach, J M Watson, R K Gurgel, J S Anderson, N L Foster. Increased Functional Connectivity After Listening to Favored Music in Adults With Alzheimer Dementia. Prev Alzheimers Dis. 2019;6(1):56-62

 

 

 

 

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