Erhöhen anticholinerge Medikamente das Risiko einer kognitiven Beeinträchtigung?
Während meiner Facharztausbildung in der Neurologie am Krankenhaus der Universität Federal Fluminense (UFF) in Rio de Janeiro, Brasilien, sahen wir uns häufig mit folgender Frage konfrontiert: Einige Medikamente, die in der neurologischen Routinepraxis üblicherweise verschrieben werden (für Patienten mit Parkinson-Syndrom, Depressionen oder Harnwegerkrankungen), hemmen den Botenstoff (Neurotransmitter) Acetylcholin, der für die Bildung und Aufrechterhaltung des Gedächtnisses wichtig ist. Da eine wichtige medikamentöse Behandlungstrategie der Alzheimer-Krankheit gerade darin besteht, die Acetylcholin-Konzentration im Gehirn zu erhöhen, erschien uns die gleichzeitige Anwendung von Medikamenten, die diesen Neurotransmitter hemmen, widersprüchlich und zugleich sehr risikoreich.
So stellten wir uns die Frage: Erhöhen wir also das Risiko, dass ein Patient an Demenz erkrankt, wenn wir ihn mit dieser Klasse von Medikamenten behandeln?
Tierstudien hatten bereits gezeigt, dass die Hemmung von Acetylcholin die Bildung von ß-Amyloid-Plaques und Tau-Neurofibrillären Knäueln (spezifische pathologische Marker der Alzheimererkrankung) in Regionen fördert, die mit der Alzheimer-Krankheit in Verbindung gebracht werden. Dennoch gab es zu diesem Zeitpunkt noch keine klinische Studie, die bewies, dass anticholinerge Medikamente (d. h. Acetylcholin-Hemmer) tatsächlich kognitive Defizite verursachen können.
Angesichts der zunehmenden Häufigkeit der Alzheimer-Krankheit und der Unwirksamkeit der derzeit verfügbaren Medikamente gewinnen Studien, die sich mit den Risikofaktoren für die Entwicklung dieser Krankheit befassen, immer mehr an Bedeutung. Diese Risikofaktoren beschleunigen den kognitiven Abbau und haben daher, wenn sie vermieden werden, eine „schützende“ Wirkung, d. h. sie verhindern das Fortschreiten des Gedächtnisverlusts und anderer charakteristischer Veränderungen der Alzheimer-Krankheit. Wir wissen, dass einige dieser Faktoren nicht verändert werden können, wie z. B. das Alter oder die Genetik. Andere hingegen sind veränderbar und somit vermeidbar, und ihre Erkennung ermöglicht es, das Auftreten neuer Fälle sowie die Entwicklung von Fällen in frühen Stadien zu verhindern. Demnach wäre ist sehr wichtig, herauszufinden, ob anticholinerge Medikamente einen weiteren Risikofaktor darstellen könnten.
Vor diesem Hintergrund ist eine neue Studie, die in der Zeitschrift Neurology (1) veröffentlicht wurde, äußerst interessant und scheint eine Antwort auf mein Dilemma zu geben, das ich als junge Neurologin hatte:
In dieser Studie wurden 688 Teilnehmer OHNE kognitive Beeinträchtigung bis zu 3 Monate vor Studienbeginn nach der Einnahme anticholinerger Medikamente befragt und 10 Jahre lang nachbeobachtet. Die Autoren fanden heraus, dass die Einnahme anticholinerger Medikamente das Risiko der Entwicklung einer leichten kognitiven Beeinträchtigung (auch MCI ‘mild cognitive decline’ genannt), was auf ein frühes Stadium der Alzheimer-Krankheit hinweist, erhöhte. Dieser Effekt war dosisabhängig: Das Risiko, an MCI zu erkranken, war höher bei Patienten, die höhere Dosen einnahmen.
Die Wechselwirkung zwischen der Einnahme von Anticholinergika und dem Vorhandensein des genetischen Risikofaktors APOE4 wurde ebenfalls untersucht: Bei Patienten mit dem APOE4-Gen, die diese Art von Medikamenten einnahmen, war die Wahrscheinlichkeit einer MCI-Erkrankung 2,5-mal höher als bei APOE4-negativen Patienten, die das Medikament nicht einnahmen, was eine Summierung der Risikofaktoren zeigt. Die gleiche Wechselbeziehung wurde bei Patienten mit spezifischen Markern für die Alzheimer-Krankheit im Liquor beobachtet.
Daraus lässt sich schließen, dass es einen Zusammenhang zwischen der Einnahme von Anticholinergika und dem Fortschreiten zu einer leichten kognitiven Beeinträchtigung innerhalb von 10 Jahren gibt, was zu beschleunigtem Gedächtnisverlust wie auch stärkerem kognitiven Verfall führt. Diese Verschlechterung der Symptomatik kann sich bei APOE4+-Patienten oder bei Patienten mit pathologischen Markern für Alzheimer im Liquor (Liquor cerebrospinalis) noch weiter verstärken.
Wir dürfen nicht vergessen, dass anticholinerge Medikamente nicht nur in neurologischen Kliniken eingesetzt werden. Viele gängige Medikamente, die oftmals zur Selbstmedikation verwendet und ohne Rezept verkauft werden, haben diese anticholinerge Wirkung. Dazu gehören Antihistaminika (Antiallergika), Antiemetika (gegen Reisekrankheit), Muskelrelaxantien, Antidepressiva, Antispasmodika, Bronchodilatatoren usw. Eine vollständige Liste dieser Medikamente finden Sie hier auf der ‘Kompetenz statt Demenz’-Seite.
Diese Ergebnisse unterstreichen die nachteiligen Auswirkungen anticholinerger Medikamente auf die Kognition, insbesondere bei Personen mit erhöhtem Risiko für Alzheimer. Ärzte sollten daher sorgfältig abwägen, ob der Nutzen der Einnahme von Anticholinergika das Risiko für eine Entwicklung einer kognitiven Beeinträchtigung überwiegt. Die Patienten sollten vor den Risiken gewarnt werden und möglichst eine Selbstmedikation vermeiden. Darüber hinaus sollte bei jedem Patienten, bei dem eine leichte kognitive Beeinträchtigung diagnostiziert wird, die derzeitige Verwendung dieser Medikamente überprüft und, wenn möglich, sofort abgesetzt werden. Wichtig wäre es an diesem Punkt, dass in weitere Studien untersucht wird, ob das Absetzen solcher Medikamente zu einer Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten führt.
Fazit:
Anticholinergika sind Medikamente, die Acetylcholin, einen Botenstoff, der an Aufmerksamkeit und Gedächtnis beteiligt ist, hemmen. Diese Arzneimittel werden häufig zur Behandlung verschiedener Symptome wie Asthma, Parkinson, Schmerzen, Übelkeit, Depressionen usw. eingesetzt und können in jeder Apotheke ohne Rezept gekauft werden. Eine neue Studie hat gezeigt, dass Patienten, die Anticholinergika einnehmen, ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer leichten kognitiven Beeinträchtigung (MCI), einem frühen Stadium der Alzheimer-Krankheit, haben. Das Risiko ist bei APOE4-Trägern sogar größer. Deshalb ist es äußerst wichtig, dass bei der Einnahme dieser Medikamente eine sorgfältige Kosten-Nutzen-Abwägung vorgenommen wird, um sich nicht unnötig einem höheren Demenz-Risiko auszusetzen. Gerade Menschen, die auch anderen Risikofaktoren ausgesetzt sind, sollten sich diese Mühe machen. Ihre Hirngesundheit wird es Ihnen danken!
Referenz:
Weigand AJ, Bondi MW, Thomas KR, Campbell NL, Galasko DR, Salmon DP, Sewell D, Brewer JB, Feldman HH, Delano-Wood L; Alzheimer’s Disease Neuroimaging Initiative. Association of anticholinergic medications and AD biomarkers with incidence of MCI among cognitively normal older adults. Neurology. 2020 Oct 20;95(16):e2295-e2304.